Im Rahmen des diesjährigen 17. Landeswettbewerb Essay, der von der Berkenkamp-Stiftung in Zusammenarbeit mit dem Ministerium für Schule und Bildung des Landes Nordrhein-Westfalen für alle Schüler der gymnasialen Oberstufe an allen weiterführenden Schulen des Landes NRW veranstaltet wurde, konnten bereits vor einiger Zeit zwei Schüler der Q2 des Stadtgymnasiums geehrt werden.

Inga Ramacher und Ilja Scherb erhielten für ihre erfolgreiche Teilnahme eine Urkunde.

Bei dem landesweiten Wettbewerb geht es neben der Förderung der sprachlichen Fähigkeiten insbesondere darum, sich zu einem vorgegebenen, philosophischen Thema eigene Gedanken zu machen und diese so ansprechend zu formulieren, dass die ganz persönliche Meinung des Einzelnen anderen verständlich zugänglich gemacht wird. In diesem Jahr ging es um die Themen:

  1.  „Zweifel reizt mich nicht weniger als Wissen.“ (Dante Alighieri)
  2. „Nichts, wenn man es überlegt, kann dazu verlocken, in einem Wettrennen der erste sein zu wollen.“ (Franz Kafka)
  3. Was ist ein Gedanke?

Alle teilnehmenden Schulen des Landes durften nur maximal drei Schüler für die Teilnahme anmelden. Bei allein 624 Gymnasien in NRW ist die Zahl der Beiträge also entsprechend groß. Leider waren unsere Teilnehmer nicht unter den nur 10 Gewinnern des Wettbewerbs, aber bei einem so großen Teilnehmerfeld ist es dennoch eine Ehre, dabei gewesen zu sein.

Beide Schüler haben mit ihren Texten zu den angegebenen Themen ihre ganz eigene Sicht auf die Dinge dargelegt und zwei sehr spannende Essays formuliert. Wir gratulieren beiden nochmals herzlich zu Ihrer besonderen Ehrung.

Text: Carsten Büker

 „Zweifel reizt mich nicht weniger als Wissen.“

(Dante Alighieri)

 

Inga Ramacher

Mehr religiöse Orgien!

 

In Deutschland, ja sogar in der Welt, mangelt es an religiösen Orgien!

Dies ist ein Essay darüber, warum wir die Menschen in einer scheinbar gottlosen Art zusammenbringen sollten.

Wissen braucht Zweifel. Aber worüber reden wir überhaupt, wenn wir über Wissen und Zweifel diskutieren?

Das Wort „Zweifel“ beschreibt die schwankende Ungewissheit darüber, was richtig und was gut ist, und darüber, was man glauben sollte. Das Wort „Wissen“ beschreibt die Gesamtheit der Kenntnisse, die man über ein bestimmtes Themengebiet hat. Unser Gehirn strebt natürlicherweise nach Klarheit, da es nicht zum Denken, sondern zum Handeln existiert.

Bezüglich Wissen und Zweifel zeigt uns die Religion ein interessantes Phänomen auf. Obwohl religiöses Wissen, wie „Gott ist barmherzig“, oder „Noah hat mit seiner Arche die Menschen und Tiere gerettet“ generell als nicht zu bezweifelndes, als absolutes, Wissen deklariert wird, wurde dieses Wissen doch über die Jahrtausende immer wieder verändert und neu ausgelegt.

Trotz eines klaren Verbots in der Bibel änderte sich die allgemeine Haltung gegenüber, z. B. Homosexuellen, mehr und mehr.

Genauso ist es normal, zwei verschiedene Stoffe zu tragen, obwohl es im altem Testament verboten ist oder seine Ehefrau, im Streben nach Nachkommen, nicht mehr zu vergewaltigen.

All dies waren Wahrheiten, die sich über die letzten Jahrzehnte und Jahrhunderte verändert haben, die also angezweifelt wurden.

Trotz des starken gesellschaftlichen Progresses, sind Bibel, Koran, Thora etc. als die Bücher der Wahrheit und des Wissens bekannt. Religiöse Vertreter werden als „Geistliche“ und „Weise“ bezeichnet, nicht als eine Person, die von ihrer Glaubensgemeinschaft angezweifelt werden sollte.

Das Anzweifeln von Religionsinhalten und Religionsvertretern muss gerade innerhalb der Religionsgemeinde häufiger geschehen, damit sich die tausende von Jahren alten Wertekodexe, noch auf unsere sich immer rasanter verändernde Gesellschaft anwendbar sind.

Ist es noch zeitgemäß, dass Frauen in der katholischen Kirche keine höheren Ämter besetzen dürfen? Sind Frauen wirklich das schwächere Geschlecht und müssen vom Mann geleitet werden?

Was passiert, wenn Religion bedingungslos hingenommen wird, sogar nicht angezweifelt werden darf, zeigen sowohl Geschichte als auch Gegenwart.

Niemand muss wohl mehr an die Terroranschläge der IS, Al-Quaeda und anderen extremistischen Gruppen erinnert werden.

Extremismus entsteht aus Ignoranz gegenüber anderen Perspektiven und Weltanschauungen, vor allem aber aus dem bedingungslosen Glauben, aus der festen Überzeugung, „die Wahrheit“ zu wissen.

Wer glaubt zu wissen, dass jeder Homosexuelle vom Teufel verführt wurde und jeden Tag in seinem Sex-Dungeon kleine Kinder zu verführen versucht, der wird dies nicht hinterfragen und sich niemals fragen, ob „Homos“ eventuell doch nur Menschen sind.

Das Gleiche gilt auch für weniger extreme Beispiele. Wer durch die Gesamtheit seines Umfeldes (Familie, Freunde, Religionsgemeinschaft etc.) zu wissen glaubt, dass Frauen aus der Rippe Adams geschaffen wurden, um den Mann zu dienen, wird dies auch nicht ohne äußere Einflüsse hinterfragen.

Wenn diese Werte allerdings nicht angezweifelt werden, hinkt die Religion der gesellschaftlichen Entwicklung hinterher. Es kommt zu gesellschaftlichen Sanktionen und sogar zum Ausschluss aus der Gesellschaft, was nur zu weiteren Extremen führt:

Menschen mit engstirnigen, veralteten und einseitigen Werten werden sich andere mit engstirnigen, veralteten und einseitigen Werten suchen und gemeinsam eine immer engstirnigere, veraltete und einseitigere Gruppe bilden. Das Weltbild schrumpft und schrumpft und die Ausschließung aus der Gesellschaft führt auf der anderen Seite zu Hass auf das System. Dieser Mechanismus kann durch gezielte Propaganda ausgenutzt werden, wie beispielsweise die AfD zeigt.

Doch wenn religiöses Wissen zu Extremismus führen kann, was ist dann mit den Wissenschaften, haben sie nicht auch unveränderliche Meinungen über die Welt? Sitzt bei der NASA auch nur ein Haufen von „Wissensextremisten“?

Wissenschaften bestehen allerdings, entgegen ihres Namens, nur aus kontinuierlichem Zweifel. Im Grunde kann man sich Wissenschaftler als das nervige Kleinkind vorstellen, dass immer wieder „Und warum?“ fragt und sich nicht von einem „weil das eben so ist“ erschüttern lässt, sondern, im Gegenteil, nur noch nach mehr fragt.

Menschen dachten die Sonne würde sich um die Erde drehen, bis jemand daran gezweifelt hat und genau das Gegenteil bewiesen hat.

Wissenschaftler wissen zwar auch, allerdings entsteht ihr Wissen aus Zweifeln und kein Wissenschaftler würde ernsthaft Sanktionen für eine Hinterfragung des erlangten Wissens fordern.

Anders ist es mit der Religion, bei der Zweifel als tabu, respektlos oder gar bestrafungswürdig angesehen wird. Zudem rechtfertigt das „Wissen“ in der Religion heilige Kriege, Terroranschläge oder gesellschaftliche Diskriminierung. Menschlicher Fortschritt ist immer nur aus Zweifel entstanden.

Doch wie kann das Zweifeln an Religion normalisiert werden? Wie kann der unantastbare Status von Religion verändert werden, ohne dabei die Religionsfreiheit zu verletzen?

An dieser Stelle kommt nun die Religionsorgie ins Spiel.

Religionen müssen sich austauschen, ineinander verwinden und ihre Inhalte austauschen, um das Wissen ihrer Religionsinhalte und das der Anderen produktiv anzuzweifeln zu können.

Unsere Gesellschaft verändert sich immer schneller und schneller und ein einziger Wertekodex, der vor tausenden von Jahren entstand, ist nicht mehr ausreichend um als Leitfaden für die Menschen zu dienen.

Er muss sich also weiterentwickeln, angezweifelt und neuausgelegt werden.

Dies wird zweifellos am besten durch die Konfrontation mit anderem Wissen gewährleistet.

Wenn man konservativen Katholiken aufgibt die katholische Kirche progressiver zu machen, (…) Wie bereits angesprochen, entsteht aus Menschen mit gleicher Meinung eine Gruppe, die die vorherrschende Meinung nur noch verstärkt. Es kann sich also keine Religion von Innen heraus reformieren. Luther hat seine Thesen schließlich nicht ohne Grund außen an die Tür genagelt.

Religionen müssen sich austauschen, gegenseitig kritisieren und anstatt nur Christen, Muslime, Juden etc. zu sein, eine vielfältige Gemeinschaft bilden, in der Kritik und interreligiöser Austausch an der Tagesordnung sind. Die Gesellschaft muss weg von der Idee es könne nur einen richtigen Moralkodex geben. Dies kann nur erreicht werden, wenn aktiv andere Moralvorstellungen in den eigenen Habitus aufgenommen werden. Es muss ein Moralpluralismus entstehen.

Genauso wie das Ehepaar jedes Wochenende den Swingerclub besucht, muss der Staat einen Rahmen für den Akt des Austauschens, schaffen.

Wir als Gesellschaft sind weiter entwickelt, als, dass wir einen religiösen Staat brauchen, der ein strenges moralisches Handeln vorgibt, das lediglich mit „Gottes Willen“ erklärt wird. Moral kommt nicht mehr nur aus Religion, sondern entwickelt sich primär aus dem Individuum selbst heraus.

Deshalb ist die Trennung von Religion und Staat notwendig. Wir müssen flexibel auf neue, komplexe Fragenstellungen reagieren können. Die Bibel kann keine Fragen zur Legitimität von Abtreibung, Gentechnik im Ackerbau oder der Schaffung künstlicher Intelligenz beantworten. Hierfür ist ein Moralpluralismus notwendig.

Der Staat muss neutral und agnostisch sein, um jeden einzelnen Bürger in seinem Glauben unvoreingenommen gerecht zu werden. Diese Haltung muss er in jede seiner Institutionen implementieren! Nur ein neutraler Staat ist ein gerechter Staat.

Um den Austausch unter den Religionen zu fördern, muss der Staat weitere Mittel ergreifen und Plätze schaffen, in denen dies möglich gemacht wird, z. B. religiöse Häuser, die jeder Religion Platz bieten, aber vor allem auch Möglichkeiten für inter-religiöse Treffen schaffen.

Dabei sollten Atheisten oder Agnostiker natürlich nicht ausgeschlossen werden. Schließlich ist der Glaube an die Nichtexistenz Gottes eben auch nur ein Glaube.

Wir brauchen Bildung über Atheismus und andere Religionen, wie zum Beispiel Hinduismus, im Religionsunterricht. Dieser konkrete Austausch wirkt langfristig präventiv gegen Extremismus, indem die vielfältigen Perspektiven das Versteifen auf eine Weltanschauung verhindern.

Einseitige Moralvorstellungen sind durch den Drang nach festem und verlässlichem Wissen im Menschen verankert, sind aber auch gefährlich.

Das Berufen auf eine einseitige Moral unter dem Vorwand, Tradition bewahren zu wollen, ist kein patriotischer Akt, sondern ein Ausdruck von Ignoranz gegenüber modernen Problemen. Dies schafft einen Nährboden für Extremismus.

Stille Toleranz ist keine Lösung für eine moderne Gesellschaft, sondern bedeutet lediglich die Abwesenheit von Hass. Das ist nicht genug!

Moralvorstellungen müssen sich ineinander verwinden, mit einander verbinden und ihren Höhepunkt im Moralpluralismus finden.

Also: Mehr religiöse Orgien!

„Zweifel reizt mich nicht weniger als Wissen.“

(Dante Alighieri)

Ilja Scherb

Wenn ich dieses Zitat lese, stelle ich mir als erstes folgende Frage:

Wie sehr reizt mich Wissen überhaupt?

Im Endeffekt immer weniger, je mehr ich darüber nachdenke:

Die Menschheit, also die Gesamtheit, sollte möglichst viel wissen, damit Menschen bei Bedarf darauf zugreifen können. Die Einzelnen sollen das wissen, was sie wissen müssen, also beispielsweise sollte ein Arzt Ahnung von Medizin haben, sonst kriegst du Asta Zeneka gespritzt und dir wächst ein dritter Arm.

Was dieser Arzt ansonsten weiß, kann der Welt ziemlich egal sein – Er weiß nämlich nichts Neues.

Und vor allem zu unserer Zeit des Internets, können wir jegliches bereits gewusstes Wissen jederzeit abrufen. Ob 5 Millionen Menschen aus dem Effeff wissen, dass Seeotter im Schlaf Händchen halten, um nicht voneinander abzudriften, oder nur 5, spielt keine Rolle, denn nach zwei Minuten Recherche weiß es jeder. Und selbst dann hat im Grunde keiner was davon (außer ein kurzes Schmunzeln im Gesicht, weil es einfach niedlich ist).

Was in unserer Zeit aber viel wichtiger ist, als das reine Wissen, ist Innovation.

Die ist nämlich tatsächlich neu und bringt der gesamten Menschheit etwas. Hier kommt auch der Zweifel ins Spiel: Zweifel ist die Mutter der Innovation. Zweifelt man bestehende Denkmuster und Strukturen an, so entstehen neue, im Normalfall bessere. Werden auch diese angezweifelt, wird kontrolliert, ob sie denn auch tatsächlich besser sind. Daher können Zweifel jedes sich erdenkbare System optimieren.

Nichts wird heutzutage einfach erfunden, weil man es weiß. Man weiß es eben nicht, sondern nimmt etwas Bestehendes und zweifelt es an.

Dies gilt auch nicht nur für die Wissenschaft, sondern ebenso für die Kunst: Beispielsweise in der Musik oder der Filmographie lernt man oft Regeln, um sie richtig brechen zu können. Wir haben ja schließlich schon tausend Mal gesehen und gehört, wie es „richtig“ geht – Es wird Zeit für etwas neues, etwas revolutionäres.

Ein hervorragendes Beispiel dafür ist die „Survivorship Bias“ (deutsch: Überlebensirrtum), die dem Mathematiker Abraham Wald zugeschrieben wird.

Im Zweiten Weltkrieg forschte die US Navy nach einer Möglichkeit, Flugzeuge so zu panzern, dass dabei maximale Sicherheit bei minimaler Gewichtszunahme entsteht. Dafür wurden Einschusslöcher an Kampfflugzeugen statistisch ausgewertet. Auf den ersten Blick könnte man meinen, man solle die Stellen mit den meisten Einschusslöchern panzern. Man wusste also, wo sich die meisten Einschusslöcher bei zurückgekehrten Flugzeugen befanden. Der Punkt ist aber, dass man das eben nur über die Flieger sagen konnte, die zurückkehrten. Deswegen hat man sich dafür

entschieden, genau die Stellen zu panzern, bei denen man keine Schäden feststellen konnte: Dies sind nämlich logisch schlussgefolgert die Schäden, die das Flugzeug zum Absturz brachten.

Man könnte daher sagen, dass Zweifel sogar mehr als Wissen reizt. Ich würde es aber noch extremer formulieren: Das Unwissen des Einzelnen bewirkt mehr als sein Wissen.

Viele praktische und alltägliche Erfindungen beruhen nämlich auf Fehlern, bzw. Unwissen. So wurden beispielsweise Klebezettel erfunden, indem ein Spencer Silver 1968 einen neuen, starken Superkleber erfinden wollte. Dabei entstand jedoch das genaue Gegenteil, ein schwacher Kleber, der sich aber leicht auftragen lässt. Als sein Kollege Art Fry sich darüber ärgerte, dass ihm die Lesezeichen aus den Büchern fallen, griff er auf die „gescheiterte“ Erfindung zurück und erfand den „Post It“.

Hätte Silver damals gewusst, wie man einen Superkleber herstellt, würden uns womöglich heute noch unsere Lesezeichen aus den Büchern fallen.

Anfang des 20. Jahrhunderts entschied sich der Teehändler Thomas Sullivan für eine neue Art des Versands von Tee: Statt ihn in den üblichen, großen und teuren Blechdosen zu transportieren, füllte er seinen Tee in kleine Seidenbeutel. Obwohl das nicht so von ihm beabsichtigt war, tunkten seine Kunden den Tee samt Beutel ins Wasser. So entstand der Vorreiter des Teebeutels.

Hätten Sullivans Kunden damals gewusst, dass es sich beim Beutel nur um die Verpackung handelt, müssten wir womöglich heute noch am Ende jeder Tasse Tee getrocknete Kräuter spucken.

 

Fazit

Es ist wichtig, dass wir jederzeit auf Wissen zugreifen können, wenn wir es in einer Situation brauchen. Für die Gesellschaft ist es aber wichtiger, dass bestehende Systeme und Denkmuster angezweifelt werden, damit neue, aktuellere entstehen können. Zweifel ist ausschlaggebend für Innovation, welche, im Gegensatz zum bereits gewussten Wissen, die Gesellschaft vorantreibt und modernisiert.

Oft führt dabei Unwissen sogar zu besseren, unerwarteten Ergebnissen als Wissen.

Aus diesen Gründen reizt mich der Zweifel nicht weniger als das Wissen.